Dienstag, Mai 11, 2010

Wir sind Berlin














Manifest der Berliner KünstlerInnen und Kreativen

Kunstgalerien, Modeshows, Opern, Theater- und Film-Festivals sind die Aushängeschilder Berlins, das als Kulturhauptstadt des künftigen Europas präsentiert wird. Neben den kulturellen Großveranstaltungen ist es vor allem die lebendige alternative und subkulturelle Szenelandschaft, die Berlin zu einem Anziehungspunkt für kreativ Schaffende und Touristen aus aller Welt macht: Von Mikrokunstprojekten bis Kieztheater, von besetzten Galerien bis zur Eckkneipe mit Live-Musik kann man hier die Orte finden, die jährlich 8 Mio. Touristen neugierig auf Berlin machen.

Unter dem Slogan „Berlin, the place to be“ tourt die Stadtmarketingfirma Berlin Partner GmbH seit diesem Jahr durch die Welt, um das Image unserer Stadt als „Kulturhauptstadt“ in die Welt zu tragen. Auf ihrer englischsprachigen Internetseite wirbt die Berlin Partner GmbH: „Berlin’s creative scene is unique and dynamic, and the capital is home to people drawn from over 180 nations. The city’s landscape is shaped and influenced by a broad range of open and artistic spaces, and it boasts a vast array of locations and festivals for artistic events of all kinds.”

Das stimmt – noch! Denn was tut der Berliner Senat für diejenigen, von denen diese Stadt so offensichtlich profitiert?

Die reale Situation der in der Kreativwirtschaft Beschäftigten und der KünstlerInnen in der alternativen Kulturszene stellt sich drastischer dar, als finanzstarke Werbekampagnen erahnen lassen: Wir sind arm, aber das ist nicht sexy! Ein großer Teil dieser Gruppen lebt auf einem Existenzniveau von Hartz IV in prekären Arbeitsverhältnissen als FreiberuflerInnen, in Scheinselbständigkeiten oder hartem Konkurrenzkampf mit den KollegInnen; ein weiterer Teil ist ohnehin arbeitslos, erhält staatliche Transferleistungen und muss sich Regelmaßnahmen der Jobcenter anpassen, die für die Arbeitsbedingungen oder Fortbildungsmöglichkeiten der KünstlerInnen vollkommen ungeeignet sind.

Noch problematischer gestaltet sich die Situation von internationalen KünstlerInnen, die in Deutschland arbeiten möchten (Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, Ausländersteuerrecht, Ungleichbehandlung je nach Staatsangehörigkeit). Obwohl in Deutschland die Rahmenbedingungen für KünstlerInnen noch immer um einiges besser sind als in anderen Staaten (siehe Künstlersozialkasse, regionale Kunst- und Kulturförderung) und in hier derzeit noch mehr Freiraum existiert, als in den meisten anderen Metropolen der Welt, tendiert die Entwicklung seitens der Berliner Regierung in den letzten Jahren deutlich in Richtung eines Abbaus dieser Errungenschaften.

Freie Kultur und Kunst kann sich unter rein kapitalistisch/ökonomischen Gesichtspunkten nicht entwickeln und nicht erhalten. Es ist daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diese nicht nur zu konsumieren, sondern zu ihrem Erhalt etwas beizutragen. In Berlin besteht bereits die Situation, dass ein großer Teil der notwendigen Rahmenarbeit von sehr vielen Initiativen und ehrenamtlich betriebenen Institutionen geleistet wird. Kürzungen im Kulturetat und Einschnitte im Erhalt von bezahlbaren Freiräumen gestalten diese Arbeit zunehmend schwieriger und stellen engagierte Menschen vor die Wahl, sich in selbstausbeuterischer Weise weiterhin zu verheizen oder schlichtweg aufzugeben. Für die oft als Argument benutzte ‚notwendige gesellschaftliche Reibung der KünstlerInnen' an schwierigen Lebensumständen gibt es Grenzen.

Diesen Zustand werden wir, die Berliner KünstlerInnen und Kreative aller Sparten und Nationalitäten, nicht weiter hinnehmen!

Aufgrund der mangelnden industriellen und sonstigen Wirtschaftsmöglichkeiten soll unsere Stadt zur ‚Creative City' werden und die ‚Creative Industries' zu einem wirtschaftlichen Schwerpunkt. Der Berliner Senat verfolgt damit eine Planungsstrategie, die bereits in anderen Großstädten Europas um sich gegriffen hat: Die städtischen Grundstücke werden möglichst teuer ohne Planungsbindung verkauft, die finanzielle Unterstützung für Kulturvereine verschwindet, die Mieten steigen, die Freiräume werden zu gutbürgerlichen neoliberalen Kiezen mit alternativem Flair umgebaut, aus denen die sozial Benachteiligten und der kulturelle „Wildwuchs“ verschwinden müssen. Oder aber es wird gleich in Beton- Stahl- und Glaswüsten investiert, die keinerlei Lebensqualität im Sinne von konsumfreien Aufenthalt mehr aufweisen. Das Grauen!

Offensichtlich wollen die europäischen Großstädte, die sich das neoliberale Geschäftsmodell der „Creative City“ auf die Fahne schreiben, keinen Platz mehr für die ‚kleinen’ Künstler und Kulturbetriebe erübrigen, die den besonderen Ruf als Kulturstadt erst geschaffen haben! Unserer Meinung nach hat Berlin die letzte und größte lebendige alternative Szene West- Europas, und diese muss als solche erhalten bleiben und beschützt werden!

Wir fordern die Regierenden, die BerlinerInnen und ihre Gäste auf, sich nachhaltig für die Kreativen und die Kultureinrichtungen in dieser Stadt einzusetzen und folgende Forderungen zu diskutieren und zeitnah umzusetzen:

• Der Berliner Senat soll seine Absicht erklären, das Wachstum und den Erhalt einer lebendigen, offenen und dynamischen ALTERNATIVEN Kunst- und Kulturszene als einen überlebensnotwendigen Teil der Stadtentwicklungspolitik umzusetzen. Als Kunst verstehen wir alle Arten des Ausdrucks auf folgenden Gebieten: Musik, Literatur, Bildhauerei, Malerei, Video/Film, Darstellende Künste, Theater, Straßenkunst und alle anderen Formen gewaltfreien kreativen Selbstausdrucks. Zur Kulturszene zählen wir die KulturarbeiterInnen im Management, die TechnikerInnen, BühnenarbeiterInnen, KunstvermittlerInnen und alle anderen, die in diesem Bereich tätig sind.

• Jede kulturelle und künstlerische Einrichtung/Gruppe soll in Bezug auf nachhaltige Sicherung und den Erhalt ihrer Räume geschützt werden.

• Der Aufenthalt in Deutschland sollte jedem Menschen ermöglicht werden, der auf künstlerisch-kreative Weise hauptberuflich tätig ist, unabhängig von Nationalität, Religion oder ethnischer Gruppenzugehörigkeit. Dabei sollten Nicht-EU-EinwohnerInnen denselben Status wie EU-EinwohnerInnen erhalten.

• Die Regierung soll den Betrag der Mittel, die in den Kulturbereich investiert werden, regelmäßig (z.B. einmal im Quartal) in allgemein verständlicher und leicht zugänglicher Form veröffentlichen.

• Zur Diskussion von Kriterien des künstlerischen Status soll die Berliner Regierung ein Gremium aus KünstlerInnen, Kreativen und KulturarbeiterInnen ins Leben rufen, welches selbst entsprechend sinnvolle Regelungen in Abstimmung mit den Behörden entwickelt: z.B. die Benennung und den Schutz bestimmter Areale, Quartiere und Gebäude, die künstlerisch-kulturellen Zwecken dienen, sowie die Entwicklung von neuen Regelungen bzgl. Lärmschutz, Miethöhen, Finanzierung und Polizeipräsenz in diesen geschützten Räumen. Die KünstlerInnen und Kreativen sollen weder sozialem Druck noch sonstiger Einschüchterung ausgesetzt sein.

• Die Form und finanzielle Ausstattung staatlicher Kulturförderung soll unter Mitbestimmung der BürgerInnen und der Betroffenen neu strukturiert werden, da die hergebrachten Förderinstrumente der Entwicklung nicht mehr angemessen sind und ohnehin immer als erste den Haushaltskürzungen zum Opfer fallen.

• Die gesetzlichen Regelungen bezüglich Lautstärkeemission und anderer Konsequenzen künstlerischen Ausdrucks sollten so gestaltet werden, dass sie nicht zur Unterdrückung kultureller Ausdrucksformen dienen können. Z.B. könnten in bestimmten Quartieren erweiterte Spielräume geschaffen werden, so dass Personen, die dort hinziehen möchten, von vornherein wissen, dass Sie sich dort nicht im selben Maße beschweren können, wie in ‚ruhigeren' Wohnvierteln.

• Die Regelungen der Jobcenter für KünstlerInnen und Kreative müssen bedarfsgerecht gestaltet werden, z.B. in Bezug auf die Zwangsmaßnahmen bestimmter Bildungsangebote. Denn was nützt uns z.B. ein vom Staat teuer bezahltes Bewerbungstraining? Eine gezielte Vermittlung an öffentliche Einrichtungen und Träger (Jugend/Bildung/Museen) macht hier mehr Sinn - unter der Voraussetzung, dass vorhandene Stellen im Kulturbereich erhalten werden. Bewährte Modellprojekte wir die ‚Berliner Kulturarbeit’ sollen weitergeführt und ausgebaut werden.

• Eine Staffelung für die Anrechnung des künstlerisch erzielten Einkommens oder die gestattete Aufteilung von einmaligen höheren Honoraren auf mehrere Monate sind ebenfalls Teil unserer Forderung, ebenso die temporäre Übernahme von KSK-Beiträgen während möglicher auftragsarmer Durststrecken.

• Der ‚zivile Ungehorsam' sowie kreative Interaktionen mit den BürgerInnen und VertreterInnen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sind eine kulturelle Errungenschaft der Demokratie. Dies beinhaltet sowohl den Einsatz kreativer Materialien wie auch die künstlerische Kostümierung und die symbolhafte Verkörperung anderer Personen und Rollen. Diese Art von Aktivitäten dürfen weder diskriminiert noch kriminalisiert werden, insofern sie die Integrität und Menschenrechte anderer nicht verletzen.

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