Dienstag, April 15, 2008

Gleich nebenan: Szenebezirk Wedding

Inmitten der Kulturwüste erscheint plötzlich die Fata Morgana. Eben herrschte hier an der oberen Brunnenstraße noch Weddinger Alltag, mit der Mutter, die Kinderwagen schiebend ihre Nachkommen auf vier Fingern zurückpfeift. Mit wild geschminkten Grundschülerinnen, die aus ihrem Handy den R 'n' B scheppern lassen, und mit Senioren, die zum Erdbeerverzehr ungeniert das Gebiss richten. Doch dann gleitet an uns diese Erscheinung vorbei, ein Mittemädchen, über und über in Designerkleidung gehüllt, das Haar ein auftoupierter Amy-Winehouse-Turm. Minuten später folgt der nächste Modefremdkörper, diesmal mit Castro-Kappe und Edel-iPod.

Immobilienexperten haben die Entwicklung vorausgesagt. Ob Neukölln oder Wedding - was lange als Igittbezirk galt, ist in Berlin jetzt groß im Kommen. So nennt etwa James Guerin, der als Geschäftsführer des Berliner Bauträgers Natulis historische Fabriklofts saniert und hochwertige neue Apartments errichtet, den nördlichen Raum am S-Bahnring als nächstes Ziel: "Wir sind auch in Wedding auf der Suche nach stillgelegten Fabriken und anderen außergewöhnlichen Gebäuden, die wir zu Lofts ausbauen wollen."

Nach 13 Jahren an der Spree sehe er, dass Industriebrachen und freie Baugrundstücke in Prenzlauer Berg mittlerweile nahezu vollständig umgewandelt worden seien.

"Wir erwarten", sagt James Guerin, "dass in den kommenden Jahren die Miet- und Eigentumswohnungspreise in Prenzlauer Berg wegen der hohen Nachfrage weiter nach oben steigen. Nur einige Schritte von den besten Wohnanlagen in Prenzlauer Berg entfernt befinden sich in der Nachbarschaft auf Weddinger Seite Flächen, die nur darauf warten, als attraktive Wohngegend wachgeküsst zu werden. Vielfalt und Lebendigkeit sind das, was den Prenzlauer Berg in den letzten Jahren so attraktiv gemacht hat. Wenn wir diese Berliner Mischung auch für die Zukunft erhalten wollen, müssen wir zusätzliche neue Räume für Familien und Singles schaffen. Der Wedding ist dafür der ideale Lebensraum."

Vor dem Mauerfall saß die Szene in Kreuzberg, es folgten Prenzlauer Berg und Mitte, momentan verändert sich Friedrichshain. "Vorweg gehen immer die Pioniere, die neue Orte erst erschließen", sagt Busso Grabow, Experte für Stadtentwicklung am Deutschen Institut für Urbanistik (DifU). Künstler und Kreative, Punks, Studenten und Hausbesetzer, die nicht viel Geld haben, suchen Orte, an denen sie Freiräume haben. "Also große Wohnungen und Ateliers, die nicht so teuer sind, in denen sie ihre Lebensformen leben können."

Nach Mitte und Prenzlauer Berg ging die Szene in das angrenzende Friedrichshain. In den damals noch unsanierten Altbauten fanden die Kreativen jene Räume, die sie suchten. Bald folgten ihnen kleine Kneipen und Cafés. "Es spricht sich schnell herum, wenn sich in einem Bezirk etwas tut", sagt Grabow. Und schließlich folgten der alternativen Szene jüngere Leute mit mehr Geld. Werber, Architekten, Journalisten, die sogenannte Mittelschicht. "Gentrifizierung" nennt der Stadtsoziologe dieses Phänomen - die soziale Umstrukturierung eines Stadtteils. Parallel beginnen meist auch umfangreiche Restaurierungsarbeiten. Spätestens dann ist der Bezirk ein Trendbezirk. Die kleinen Kneipen werden durch schickere Lokale ersetzt, die Mieten schnellen nach oben.

An diesem Punkt ist jetzt auch Friedrichshain angekommen. "Es hat eine Aufwertung stattgefunden", sagt Grabow, "doch von den Pionieren, den Entdeckern des Stadtteils, wird diese Aufwertung als Abwertung empfunden." Sie können zum Teil die steigenden Mieten nicht mehr bezahlen oder haben nicht mehr den Raum, den sie gesucht haben. "Also wandert die Szene wieder ab, sucht sich neue Räume." Dies sei "ein Prozess, der in Friedrichshain bereits eingesetzt hat". Inzwischen ist man auf dem Weg nach Wedding und Nord-Neukölln. Vor allem im Reuterkiez, nahe dem Landwehrkanal und fast in Kreuzberg, siedeln sich die Pioniere an. In den Immobilienanzeigen ist vom Trendbezirk Kreuzkölln die Rede. "Die Ecke wird gerade der hippste Bezirk der Stadt", urteilt Busso Grabow.

Im Reuterkiez etablieren sich Szenekneipen, Restaurants wie "Kirk Royal", Galerien und Büros der Kreativbranche. Sabine Steinort und Ulrika Böhm sind schon da mit ihrer Stoffwerkstatt Steinort Berlin, nähen Kleider, fertigen Taschen und bedrucken T-Shirts mit dem Schriftzug Kreuzkölln. "Als wir anfingen, war hier noch nicht viel los, es wirkte alles so grau", sagt Sabine Steinort, "aber mittlerweile sind hier viele Studenten, ein Laden nach dem anderen eröffnet."

Allerdings gehen nun auch die Mieten nach oben. Bei Neuvermietungen rund um den Reuterplatz haben sie laut Zeitschrift "Mieterecho" bereits Kreuzberger Niveau erreicht. Die Zeiten, in denen Wohngemeinschaften günstige Riesenapartments finden konnten, scheinen jedenfalls schon wieder vorbei. Eine Tatsache, die den Bezirk für die Kreuzkölln-Pioniere tief trifft. Im Reuterkiezblog warnt ein Autor: "Im Herbst zieht auch das gehobene Ambiente im Kiez ein — offensichtlich haben Investoren Fabrikhöfe an der Hobrechtstraße gekauft und bauen die jetzt zu schicken Lofts um und natürlich nennt sich das ganze Kreuzköllnlofts." Blogleserin Diane mailt empört: "Ich bin schockiert."

Zu den Wegbereitern für ein florierendes Witte (gemeint ist die Weddinger Schnittstelle zu Mitte) werden indes der Franzose Frédéric Louis Fourrichon und der US-Amerikaner Patrick McHugh. Gemeinsam stehen sie einer Gruppe Architekten vor, den Wostarchitects, die Anfang des Monats auf Weddinger Seite der Brunnenstraße ihr erstes Büro eröffnen.

Vor einiger Zeit nämlich hat ihr Vermieter, die Wohnungsbaugesellschaft Degewo, auf dieser einst belebten Einkaufsstrecke offenbar gen Fernsehturm geblickt und dort scheinbar zum Greifen nah Mitte entdeckt, den in der Immobilienbranche schon legendären Trendbezirk, wo einige der höchsten Mieten der Stadt erzielt werden und wo die teuren Geschäfte und die ausgebuchten Restaurants stehen. Eine Idee entstand. Es sei doch "schizophren", dass "das Leben" dort unten an der Bezirksgrenze zu Wedding, der Bernauer Straße, ende, sagt nun Degewo-Sprecherin Erika Kröber unumwunden. Es gelte, "diesen Schatz zu heben".

So sind die Degewo-Vorbereitungen für eine 500 Meter lange, überdachte Modemall, ein Outlet-Einkaufszentrum zwischen Bernauer Straße und Lortzingstraße in vollem Gange. Schon in der Übergangszeit versucht das Unternehmen nun, "sein" Brunnenviertel für eine junge Kientel anziehend zu machen. Anfang des Jahres veranstaltete man die zweiwöchige Innovationsausstellung "Wedding Dress", die laut Degewo 10 000 Menschen anlockte.

Seit 1. April lässt man für einen unschlagbaren Quadratmeterpreis von knapp über zwei Euro Jungdesigner, Web-Unternehmen und eben auch die innovativen Architekten der Wostarchitects in die 26 bereits leer stehenden Erdgeschossgeschäfte des Blocks an Weddings Südende in der Brunnenstraße einziehen.

Inmitten der Vorbereitung einer Präsentation für einen Innenarchitekturauftrag sagt Frédéric Louis Fourrichon, dass man so früh nach Start des Büros damit beschäftigt sei, sich Referenzen zu verschaffen. Akquise und der Aufbau einer Unternehmensstruktur brächten "nicht viel Geld ein", weshalb er über seine Degewo-Flächen "sehr zufrieden" sei.

Während jenseits des Schaufensters die hier noch immer surreal wirkenden Erscheinungen aus den Nachbargeschäften vorbeiwandeln - fesche Designerinnen und ambitionierte, stoppelige junge Männer, deren Look bislang nie außerhalb der Zentralbezirke anzutreffen war -, erzählt Fourrichon aber auch vom Unmut im Kiez. "In Geschäften wie diesem hatten die Anwohner früher ihre Bäcker, ihren Laden für die Dinge des täglichen Bedarfs."

Alle seien fortgezogen - "nur für die Scheiß-Klamottenläden", gibt Architekt Fourrichon die Kritik der Alt-Weddinger wieder. Mag Degewo-Sprecherin Erika Kröber auch versichern, man wünsche durchaus einen Mix aus Traditionsweddingern und hinzugezogenem Szenevolk, sieht Fourrichon den krassen Wandel im Viertel voraus. "Langfristig", prognostiziert der selbst vor Ort lebende Architekt nüchtern, "werden die jetzigen Anwohner sich das, was hier herkommt, nicht leisten können."

Patrick Goldstein, Nicole Dolif

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