Freitag, Oktober 07, 2005

40 Jahre DDR, ein Jahr Anarchie

Die Tage vor dem 40. Jahrestag der DDR waren spannend und emotionsgeladen. Beim letzten Appell auf dem Schulhof brach die Direktorin fast in Tränen aus. Ihre Stimme bebte. Es war sowieso eigenartig, dass jetzt noch sowas Feierliches stattfand. An den vergangenen Montagen gab es immer nur Ordnungsappelle auf den Fluren. Verwarnungen, Verweise und gelegentlich Klassentadel wurden dort ausgesprochen. Irgendwie schienen sie es alles nicht mehr im Griff zu haben.

Am 6.Oktober kam Gorbatschow nach Berlin. Nicht nur er. Auch Arafat, Fidel, Miterand und alles was unter Ostbonzen Rang und Namen hatte. Uns hat nur Gorbi interessiert. Manche in den höheren Klassen hatten aus Polen oder aus dem Westen kleine runde Keramik-Buttons mit Gorbi drauf. Wir haben Buttons damals immer Sticker genannt. Wahrscheinlich weil man sie anstecken konnte.

Wir sollten gegen Mittag zur Schönhauser Allee, Spalier stehen und winken. Nach den Sommerferien 89 war unserer Klasse ganz schön klein geworden. Viele sind in den Westen gegangen. Ich weiß nicht, ob sie über Österreich-Ungarn weg sind. Die Grenzöffnung hatte Kohl damals den Arsch geretten. Die West-CDU wollte ihn absegen. Die Wohnungstüren meiner Freunde waren versiegelt, mit Stempel von der VP. Das war irgendwie beklemmend. Manchmal konnte man durch den Spion noch Möbel sehen. Manchmal war alles leer.

An den vergangenen Wochenenden hatten die Eltern öfter Besuch von Freunden und Bekannten. Immer mehr Frust staute sich an. Danach hieß es immer: "Kein Wort von dem was hier gesprochen wurde, verlässt diese vier Wände." Und ich schwieg.

Alle meine Mitschüler hatten schon ein politisches Bewusstsein entwickelt. Wir wussten vom Sputnik-Verbot, von Skinheads im Osten und von Joint Ventures zwischen West-Konzernen und Volkseigenen Betrieben. Wir kannten irgendwann die Gesichter der unauffälligen Herren mit leeren Einkaufsbeuteln, die in der Greifswalder immer an den gleichen Schaufenstern vorbeischlenderten. Doch noch waren wir fast alle linientreu. Noch hofften einige auf eine kleine Karriere als Freundschaftsratsvorsitzende.

Am Vormittag des 6. Oktober saßen wir im Klassenraum, ohne Lehrerin. Ein paar Mädels malten eigene Gorbi-Plakate. "Glasnost, Perestroika, Gorbi!". Solche Sachen standen da drauf. Ganz schön krass. Das wäre ein paar Tage zuvor nicht möglich gewesen. Am 3. Oktober gab es am Dresdner Hauptbahnhof krasse Ausschreitungen, als der Zug mit den Ostlern aus der Prager West-Botschaft durchrollte.

Gorbi kam in Schönefeld an, ratterte mit Honni durch die Schönhauser Allee Richtung Schloss Niederschönhausen, dem einstigen Amtssitz von Wilhelm Pieck, unserem ersten und letzten Präsidenten.
Wir mussten ewig warten und bekamen rote und blaue Nylon-Tücher als Winkelemente. Unsere Lehrerin war auf einmal wieder da und wies uns halbherzig darauf hin, dass wir nur damit winken sollen.

Alle 6 Meter stand ein Volkspolizist, die Beine leicht auseinander, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Gorbi und Honni kamen irgenwann angerollt, eine dicke Kolonne, abgesehen von den VP-Ladas nur Westautos, Volvo, Citroen und so. Gorbi-Rufe. Honni hatte die Scheibe unten und bekam ein paar Buh-Rufe ab. Alles ging super schnell. Die dunkelblauen und schwarzen Karossen ratterten über das Kopfsteinpflaster und verschwanden in Pankow. Unsere Klasse sammelte sich wieder. Die VPler zogen ab.

Unsere Klassenlehrerin führte uns zur Gethsemanekirche. Über dem Eingang hing ein schwarz weiß rotes Transparent. Irgendwas mit Freiheit für politische Gefangene stand da. Auf dem Zaun standen Kerzen, auf der Treppe Männer mit Vollbart. In der Kirche war es voll. An den Wänden hingen Zettel, handgeschriebene Flugblätter und Bilder. Copy-Shops gab es nicht.

Die Gespräche auf dem Heimweg waren spannend und politisch. Mit meinem Klassenkamerad David unterhielt ich mich lange über den Sinn von Joint Ventures. Am nächsten Tag war frei. Die Parade schaute ich mir im Fernsehen an. Keine Hubschrauber dieses Jahr. Aber reichlich Katjuschas, Panzerhaubitzen, die tollen, offenen Tschaikas und Fallschirmspringer mit roten Barrets.

Die Eltern hatten Besuch aus Halle. Ich fuhr mit dem Rad noch schnell zum Alex. Das muss kurz vor den ersten Protesten gewesen sein. Die letzten Soldaten fuhren grad weg. Abends war noch Höhenfeuerwerk im Friedrichshain. Wir stellten uns aufs Dach. Das Handelszentrum in der Friedrichstrasse hatte in einzelnen Räumen die Lichter so angestellt, dass es von aussen den Schriftzug DDR 40 ergab. Im "Friedi" knallte und rummste es. Doch von irgendwoher waren Stimmen zu hören. Sprechchöre, Rufe, eine aufgebrachte Masse.

Am nächsten Schultag war kaum richtiger Unterricht. Die Klassenlehrerin hatte eine Berliner Zeitung und ein Neues Deutschland dabei. Sie laß zwei Kurzmeldungen vor, die irgendwo auf der letzten Seite versteckt waren. Irgendwas mit Rowdies und Randalierern im Stadtzentrum. Wir waren empört und diskutierten. Plötzlich waren die Standard-Sprüche: "Ich schließe mich der Meinung meines Vorredners an." verschwunden, für eine Weile zumindest. Wir hatten keine Diskussionskultur.

Die Mathe-Lehrerin hatte einen Bekannten bei der staatlichen Nachrichtenagentur der DDR ADN. Sie war mit ihm unterwegs gewesen, hatte Fotos dabei und hatte auch einen Knüppel in die Nieren gestoßen bekommen.

Ein paar Tage später verschwand Honni von der politischen Bildfläche. Die Sekretärin entsorgte sein Bild aus dem Büro der Direktorin in der Schulmülltonne. In der Pause flog es quer über den Schulhof. Die DDR hatte zumindest für uns aufgehört zu existieren. Es begann ein Jahr der Freiheit und Grenzenlosigkeit.
War das schon ein Stückchen Anarchie?

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