Wir wohnten damals in einer Mietskaserne im Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg. Uns gegenüber wohnte ein Elektriker. Meine Eltern kannten ihn nur vom Sehen her und konnten ihn nicht leiden. Ich glaube, ich hatte Herbstferien. Meine Eltern erwarteten Handwerker. Es klingelte. Ich öffnete und prompt stand unser Herr Nachbar von gegenüber in der Wohnung. So nah hatte ich ihn nie gesehen. In dieser Zeit unterhielt man sich viel und viel hemmungsloser als noch wenige Wochen zuvor, egal mit wem. Die Angst war weg. Auch die Sprüche meiner Eltern waren verhallt. "Kein Wort von dem was heute hier gesprochen wurde, verlaesst jemals diese vier Waende. Ist das klar?"
Der Elektriker machte sich ans Werk, schraubte im Korridor rum und wetterte im aggressivsten Ton gegen die Demonstrierenden. Warum erzaehlte er uns das? Was wollte er uns klar machen? Wovor hatte er Angst? Mein Vater hielt dagegen. Ich hielt mich, wie anerzogen, zurück. Die Leute auf den Strassen waren keine Konterrevolutionaere. Die wollten auch keine Vereinigung mit der BRD. Die wollten eine neue, bessere DDR. Da war ich mir sicher. Der Elektriker hetzte weiter gegen die junge Opposition und gefiel sich gut in der Rolle. "Die müssen sich nicht wundern, wenn sie was drauf bekommen."
Ich konnte und wollte es nicht glauben. Mein Vater kochte Kaffe, liess ihn reden und reagierte irgenwann nicht mehr. Das ist sechzehn Jahre her. Der Elektriker von gegenüber ist heute mittelstaendischer Unternehmer. Sein Firmensitz ist nur ein paar Minuten von unserer und seiner alten Wohnung entfernt. Er hat sich scheiden lassen und seine Familie verlassen.
Oft sehe ich noch die Dienstwagen seiner Elektrikerfirma an mir vorbeirollen. Immer beschleicht mich ein unangenehmes Gefühl und diese Erinnerungen werden wach.
Er hat nur seine Meinung gesagt. Sicher hat er Angst gehabt, wie viele. Angst vor Veraenderung, Verlust und Reformen. Wer hatte die nicht?
Ich frage mich, ob er nicht Nutzniesser derer ist, die sich damals, im Oktober 89, in der Hans-Beimler-Strasse von der kasernierten Volkspolizei haben vermöbeln lassen. Warum haette er auch nicht nach der Wende sein Glück versuchen sollen? Es könnte mir egal sein, doch die Bemerkungen von damals kann ich ihm schwer verzeihen, dem Herrn Nachbar, dem Elektriker von gegenüber.
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