Als "Weltweite Sprachrohre in Deutschland" wurden sechs herausragende Internetprojekte mit der Top Level Domain ".org" am Mittwochabend im Haus der deutschen Wirtschaft in Berlin geehrt. Die Public Interest Registry (PIR), die die ".org"-Domain seit 2003 vergibt, würdigte das Weblog netzpolitik.org, das emanzipatorische Nachrichtennetzwerk indymedia, die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch und die Wikimedia-Stiftung. Geehrt wurden des Weiteren der nicht kommerzielle Behördenwegweiser bundesrepublik.org und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).
Mit der Aktion wollte die PIR gezielt in Deutschland auf die zivilgesellschaftliche Bedeutung dieser Top Level Domain hinweisen. ".org"-Adressen wurden ursprünglich nur an nicht kommerzielle Träger vergeben. Der Markt wurde jedoch in den letzten Jahren geöffnet. Etwa sechs Millionen ".org"-Adressen gibt es inzwischen. Während unabhängige Organisationen, Medien und Projekte, die öffentliche Interessen vertreten, den besonderen rechtlichen Status der internationalen ".org"-Domain schätzen, profitieren kommerzielle Anbieter von deren Ruf und Glaubwürdigkeit. Weltweit bekannte Inhaber von ".org"-Top Level Domains sind etwa die Umweltschutzorganisation Greenpeace, das Firefox-Projekt oder das National Public Radio (NPR) aus den USA.
Ein Erlebnisbericht von Jens Steiner
Manche Dinge ändern sich nie. Der preussisch-zackige Befehlston des Wachmanns im Haus der Deutschen Wirtschaft beeindruckt niemanden mehr, erst recht nicht die Gäste der Veranstaltung ".org World Voices in Germany". "Geradeaus, über den Lichthof, zu den Konferenzräumen, Ebene 2!" schnarrt es aus der Sprechanlage des Wächters. Hinter der getönten Scheibe erkennt man nur sein Hemd, nicht aber sein Gesicht. Zwei gläserne Flügelsperren am Haupteingang öffnen sich. Hier residieren die Wirtschaftslobbyisten.
Ungewöhnlicher Besuch im Haus der Deutschen Wirtschaft
Zwischen Berliner Rathaus und Auswärtigem Amt haben sich BDI, DIHK und die Arbeitgeberverbände vor neun Jahren einen Palast aus Sandstein, Stahl und Glas errichtet.
Hier gehen sonst die Strippenzieher der deutschen Wirtschaft ein und aus. Heute nicht. Heute Abend sind es die, die von ihnen sonst als "Gutmenschen" und "Weltverbesserer" abgestempelt werden. Geladen hat die Public Interest Registry (PIR). Die Organisation vergibt seit fünf Jahren die Top Level Domain ".org".
Hier sieht es aus wie überall
Beklemmend ist das Gefühl beim Laufen über den grauen Estrichboden, aus dem ein einsamer, in die Ecke gezwängter Bambusbusch ragt. Kameras an der gläsernen Fassade behalten die Ausflugsdampfer auf der Spree im Blick. Man weiß ja nie. Der Wintergarten vereint den funktionellen Charme eines Stadions mit dem ökonomischen Flair eines Bahnhofs. Man fühlt sich nicht anders als am Potsdamer Platz oder unter der Reichstagskuppel, ebenfalls Referenzobjekte des Hamburger Architektenbüros Schweger & Partner, Planer dieses Palastes.
Die Presse bleibt zu Hause
Es ist genau 18 Uhr. Auf Ebene 2 des Konferenzturms endlich echte Menschen. Hinter einem Tresen begrüßen zwei junge Frauen die Gäste. Sie freuen sich ehrlich über jeden Besucher, gleichen deren Namen auf einer Liste ab und überreichen ihnen Namensschilder in verschiedenen Farben. Die Farben sollen Organisatoren, Geschäftspartner, ".org"-Seitenbetreiber, Gäste und Presse unterscheiden helfen. Nach den Presseschildchen sucht man vergeblich. Die Mainstream-Medien bleiben der Veranstaltung fern. Wahrscheinlich hat sich die PIR für das Haus der Wirschaft als Austragungsort entschieden, weil sie sich dadurch mehr Aufmerksamkeit von Medien und Business erhofft hatte. Das hat so nicht funktioniert. Als Begrüßungsgeschenke gibt es ein dünnes Programmheft und bunte Kugelschreiber mit weicher Griffzone, transparentem Schaft, verchromter Spitze und viel Glitzer.
Networking beim Willkommens-Cocktail
Ein Barbereich ist aufgebaut. An den fünf silbernen Stehtischen mit weißen Tischtüchern wird Englisch gesprochen. Die Veranstalter pendeln von Tisch zu Tisch und halten ihre Gäste mit Smalltalk bei Laune. Ein kaputter Kaffeeautomat versetzt die etwas steifen, aber zweisprachigen Mitarbeiter eines Catering-Services in Unruhe. Den Gästen ist das egal. Sie sind nicht wegen des kostenlosen Automatenkaffees gekommen. Ein graziöser Kellner geht durch die Reihen und reicht Wilkommens-Cocktails und kleine Häppchen.
Perfektes Konferenzequipment
Alles verläuft nach Plan. Genau 18.30 Uhr öffnen sich die Türen zum Hanns-Martin-Schleyer-Saal. Ein Videobeamer, eine Leinwand, ein Diskussionspodium, ein Rednerpult und sechs Tischreihen füllen den Raum. Konferenzmikrofone stehen auf jedem Tisch. Schwarze A5-Heftchen, die als als Schreibmaterialien auf allen Plätzen liegen, wirken wie kleine Kondolenzbücher.
Der Auftakt
Jetzt geht es los. Souverän und ausgeglichen tritt die PIR-Vorstandsvorsitzende Alexa Raad hinters Rednerpult, begrüßt die Gäste in Deutsch und Englisch, erläutert das Programm und strahlt aus, dass sie eine erfolgreiche und weltoffene Geschäftsfrau ist. Den Blick geradeaus, den Kopf oben. Seit einem Jahr hat die Amerikanerin ihren jetzigen Posten inne. Ihre Wurzeln lägen im Mobilfunk-Marketing-Bereich, fügt sie an und leitet über zu den Präsentationen der geehrten ".org"-Projekte. Kurzer Applaus.
Routinierter Vortrag
Human Rights Watch Deutschland-Chefin Marianne Heuwagen tritt vor und macht ihren Job. Routiniert und synchron zur Videobeamer-Präsentation spult sie in glockenklarem Englisch den Selbstdarstellungstext der Menschenrechtsorganisation ab. Man erfährt nichts, was man nicht auch auf deren Website hätte erfahren können. Dafür wirkt alles sehr professionell.
Bürgerrechtler 2.0
Nächster Kandidat ist Netzpolitik.org-Blogger Markus Beckedahl. Er freut sich, seinen Vortrag in Deutsch halten zu können. Irgendwie kann man ihm besser zuhören als der HRW.org-Chefin. Der Creative Commons-Verfechter Beckedahl hat viel erreicht. Netzpolitik.org, ein Nachrichtenblog zu internetpolitischen Themen, ist nur ein kleiner Ausschnitt seines Schaffens. Was die eingeschlafene Bürgerrechtsbewegung der Achtziger mit selbstgemalten Transparenten auf der Straße bewegt hat, bewegt Beckedahl heute im Netz. Als Re:Publica-Organisator hat er die Blog-Kultur in Deutschland salonfähig gemacht. Mit seiner Firma newthinking betreibt er Lobbyarbeit für Open-Source-Projekte.
Media ist nicht gleich Pedia
Bühne frei für Wikimedia-Vertreter Patrick Danowski. Das Lampenfieber quält ihn. Aus aktuellem Anlass geht Danowski auf den Unterschied zwischen der Online-Enzyklopädie Wikipedia und der Wikimedia Foundation ein. Er fragt daraufhin in die Runde nach regelmäßigen Nutzern von Wikipedia. Alle 28 Menschen im Saal strecken die Arme in die Luft. Auch von ihm erfährt man kaum Neues. Schade!
Eine Lücke gefüllt
Bundesrepublik.org-Initiator Alexander Rodert scheint wenig geübt in Sachen Selbstdarstellung, aber umso engagierter beim Durchforsten und Katalogisieren des Netzes. Seine uneigennützige Art macht ihn sympathisch. Was ihn antreibt, könne er nicht erklären. Dabei könnte er mit seiner ".org"-Seite wirklich Geld verdienen. Rodert hat den ersten Behördenwegweiser aufgebaut. Auf staatlichen Internetseiten wie bund.de findet man nichts Vergleichbares. Bereits in der Startphase hätten ihn verschiedene Behörden kontaktiert und gefragt, ob sie sein Verzeichnis auch intern nutzen dürften, berichtet Rodert. Sein Bürgerportal mit inzwischen 238.805 Einträgen zeigt, dass es im Internet auch nicht kommerzielle Dienstleistungen von Bürgern für Bürger gibt. Auch das ist Netzaktivismus.
Die mit der PISA-Studie
Für die letzte Präsentation muss sich OECD-Sprecher Matthias Rumpf ranhalten. Ihm gelingt es nicht recht, das Interesse des Publikums zu halten. Sein: "Wir sind die mit der PISA-Studie", lässt ein seichtes "Aah" durch den Raum gehen. Rumpfs Powerpoint-Folien folgen eher ihrem eigenen Willen. Dagegen können seine Schüsse auf die Leinwand mit der Beamer-Fernbedienung kaum etwas ausrichten. Sein Vortrag ist fade und blass und geht ein wenig unter. Dabei ist die OECD-Seite ein effizientes Recherche-Werkzeug für alle, die sich mit internationaler Entwicklungshilfe, Gleichberechtigung, Bildung oder Konfliktforschung befassen. Interessant klingt das OECD-Projekt Wiki Gender.
Wer nicht kommt zur rechten Zeit...
Die Präsentation von Indymedia fällt flach. Zu spät kam der Kontakt zu den Medienaktivisten in Deutschland zustande. Dafür hagelt es für das unabhängige Medienzentrum den ganzen Abend über Lob und Ehre von allen Seiten. Einige US-Amerikaner zeigen sich verwundert darüber, dass im Rahmen von de.indymedia.org kaum professionelle Journalisten tätig sind.
ABC/CNN-flüchtige ((i))ndy-Autoren
Zeit für dankende Worte. Der investigative US-Journalist, Filmemacher und Blogger Danny Schechter tritt ans Rednerpult. Gemeinsam mit seinem Globalvision-Kollegen Rory O'Connor und dem PIR-Team hat er den Abend initiiert. Sofort ist der Raum von einer positiven Stimmung erfüllt. Schechter belebt die Veranstaltung mit einer persönlichen Note. Er stellt das gesamte Organisationsteam vor, lässt alle einzeln aufstehen und fordet von den Gästen Applaus für sie ein. Schechter und O'Connor engagieren sich nicht nur für die ".org"-Domains. Beide sind alte Hasen im Mediengeschäft. Sie bezeichnen sich selbst als Nachrichtensezierer, Unruhestifter und ABC-CNN-Flüchtlinge. Schechter war über ein Jahrzehnt als Radiomoderator tätig und verfasste Beiträge für Indymedia NYC. Frei nach dem Motto Watching the Watchdogs nehmen sie mit ihren Artikeln, Blogs und Filmen nehmen sie die Massenmedien kritisch unter die Lupe.
Deutsche Journalisten kennen kein Internet
Die Plätze für die Medienvertreter aus Deutschland bleiben leer. Dabei war es Ziel des Abends, die Rolle von ".org" als Top Level Domain in Deutschland zu stärken. ".org" sei schließlich der coolste Teil des Netzes, meint O'Connor. Mit einem zynischen Erklärungsversuch trifft Schechter den Nagel auf den Kopf: Die Journalisten vor Ort hätten wahrscheinlich noch nie etwas von ".org" gehört. "Entweder kennen sie das Internet nicht, oder sie kennen nur die Website ihres eigenen Mediums", ist der Medienkritiker überzeugt.
PR-Sprechblasen
Auf dem Podium sitzen im Anschluss Vertreter der deutschen Internet-Registrare 1&1, InternetX, Key-Systems und Strato. Eine langweilige Runde, die außer PR-Verlautbarungen nicht viel zu melden hat. Der Ausspruch des 1&1 Vertreters Andreas Maurer: "Alle nutzen Wikipedia, aber niemand denkt an die Idee, die dahinter steckt", wirkt fast schon revolutionär im Vergleich zu den leeren Worthüllen der InternetX Vertreterin Jasmine Begg.
Firmen sind als ".org"-Trittbrettfahrer erwünscht
Die Quintessenz des Gesprächs lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen. Deutschlands ".org" Community sei noch nicht sehr stark. Soziale Netzwerke wären hier im Allgemeinen schwächer als etwa in den USA. Die Registrare müssten mehr Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Gerade für kommerzielle Anbieter, die im sozialen Bereich aktiv sind, sei ".org" die richtige TLD. Rory O'Connor nannte ein treffendes Beispiel. Die Nachrichtenagentur Reuters betreibe mit alertnet.org eine gemeinnützige Nachrichtenseite zu humanitären Krisenherden. Die richte sich vor allem an Hilfsorganisationen und Entscheider in der Politik. Gerade Domainnamen, die eine Geschichte erzählen können, wie etwa das Internationale Rote Kreuz, wären beliebt und erfolgreich, so O'Connor. Die Fragerunde im Anschluss fällt kurz aus. Schnell verlagert sich das Geschehen zurück in den Vorraum des Saals.
Beim Cocktail-Empfang kommen die interessanten, die persönlichen Geschichten zu Tage. Der Catering Service zieht die Folien von silbernen Tabletts.
Gossip und Cocktails
Danny Schechter steht mit seiner noch recht jungen Berliner Cousine und deren Freundin an einem der silbernen Stehtische. Sie wechseln ein paar Worte in Russisch und Deutsch. Eher aus Spaß. Dann wird weiter Englisch gesprochen. Er hat sie als Ehrengast eingeladen. Begeistert berichtet er von der Arbeit an seinem Film Weapons of Mass Deception und dem Buch, das in Kürze dazu erscheinen wird. Kellner servieren inzwischen grapefruitfarbene Cocktails und Weißwein.
Leckereien-fuer-alle.org
Das Buffet wird gestürmt, aber so, dass es nicht auffällt. Mit Blauschimmel gefüllte Backpflaumen im hauchdünnen Schinkenspeckmantel sind der Renner. Kanapées, belegt mit Edamer und Ungarischer Salami, mit Putenbrust und Prager Schinken, füllen kleine Teller und hungrige Mägen. Das Pumpernickel mit geräuchertem Lachs und Meerrettich ist schnell verschwunden. Die Platten mit Laugengebäck mit Tomate und Mozzarella sind bald nur noch zur Hälfte gefüllt. Absolutes Highlights ist die Französische Käseplatte mit sieben verschiedenen Käsesorten, dekoriert mit frischer Ananas und rotem Wein.
Frisch auf chromsilberne Plastiksäbel gespießte Kirschen, Trauben, Ananas, Birnen- und Apfelstückchen sind von feinen Fäden einer Bitterschokoladenglasur überzogen. Die Vorräte sind üppig. Insofern hat es doch etwas Gutes, dass die Vertreter der Mainstream-Medien heute zu Hause geblieben sind.
Das wahre Gesicht von BDI, BDA und DIHK
Wo gegessen wird, braucht's auch Toiletten. Die Aborte im Erdgeschoss des DIHK-Gebäudes sind eine Zumutung. Wo sich tagsüber Deutschlands Spitzenmanager die Ehre erweisen, herrschen anscheinend immer derartig katastrophale Zustände. Hochgeklappte und bepisste, Klobrillen, umgekippte Klobürsten, braune Spuren in den Kloschüsseln ,eingetrocknete Pinkelspuren und zerknülltes Klopappier auf dem Granitboden. Nur nach Klosprüchen sucht man vergebens. Alles in Allem kein schöner Anblick und doch ein bleibender Eindruck von einem einmaligen Besuch im Haus der Deutschen Wirtschaft.
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