P-Bergs Jungakademiker-Szene stürmt die bisher leeren Kirchen des Bezirks.
Von Charlotte Amalia ist kein Mucks zu vernehmen, nicht einmal ein leises Wimmern. Die Laute der neuen Erdenbürgerin des Berliner Szeneviertels Prenzlauer Berg wären aber auch bald übertönt worden vom mächtigen Orgelklang der Gethsemanekirche. Die evangelische Kirchengemeinde hat sich rings ums Taufbecken versammelt, als das Lied „Von guten Mächten treu und still umgeben“ erschallt, das einem in Mark und Bein geht. Dietrich Bonhöffer hat es geschrieben, der Pastor der nahe gelegenen Zionskirche, der im Widerstand gegen das Nazi-Regime sein Leben ließ.
Während sich draußen allmählich die Cafés und Lokale rund um Kastanienallee und Kollwitzplatz zum Brunch und zum Latte Macchiato mit sonntäglichen Müßiggängern füllen, sind auch die Kirchenreihen dich gedrängt mit mit Jungvolk. Es sind meist zugezogene Akademiker aus dem Westen, aus dem Schwäbischen, dem Rheinland oder aus Bayern, die es samt Nachwuchs und Kinderwagen in die Kirchen zieht.
Heimweh zu Gott?
Als „Heimweh zu Gott“ hat ein Stadtmagazin das Phänomen bezeichnet. Das wäre vielleicht doch ein wenig übertrieben, doch ereignet sich in Prenzlauer Berg gerade so etwas wie ein kleines Wunder. Während sich anderswo in Deutschland und in Berlin die Kirchen leeren und aussterben oder teilweise sogar zum Verkauf anstehen, florieren hier die Gemeinden. „Wir haben 150 Taufen im Jahr“, sagt Heinz-Otto Seidenschnur, einer der vier Pfarrer im evangelischen Kirchenbezirk Prenzlauer Berg-Pankow. Seit der Wende hat sich die Zahl der Mitglieder sogar verdoppelt. Allein hier hat die evangelische Kirche 7000 Neuzugänge registriert.
Hier, in den evangelischen Kirchen, nistete die Keimzelle des Widerstands gegen die DDR, hier trafen sich die Dissidenten und Künstler zur Diskussion, und von hier gingen die Demonstrationen im Herbst 1989 aus, die zum Sturz der kommunistischen Diktatur führten. Als „Held“ empfindet sich freilich kaum einer der Alteingesessenen. Viele der früheren Bewohner sind ohnehin in den Speckgürtel rund um Berlin gezogen. Es hat seither ein Bevölkerungsaustausch stattgefunden. In die längst sanierten Altbauwohnungen sind vor allem Studenten, Künstler und allerlei Kreative aus Westdeutschland gezogen, die mittlerweile einen Kinderboom ausgelöst haben – und eben auch einen Kirchenboom.
Seidenschnur erklärt sich das aktive Kirchenleben mit einer Kettenreaktion: „Wo junge Leute sind, kommen andere Junge nach.“ Es sind Leute wie Jürg Wildner und seine Frau Paola Valderama, die prototypisch stehen für die „Generation Prenzlberg“: Mittdreißiger, zwei Kinder, die nicht nicht jeden Sonntag in Kirche gehen – aber immer öfter. Er: evangelisch, ein ausgebildeter Theologe und Vikar. Sie: als gute Chilenin katholisch und Philosophiestudentin.
„Im Zeitalter der Globalisierung nimmt die Frage nach der Weltsicht, nach der existenziellen Frage nach der Transzendenz zu“, erläutert Wildner als Mann vom Fach religionsphilosophisch. Für ihn wurzelt die Sinnsuche in der „Sehnsucht nach Religion“. Aber er betrachtet den Kirchgang durchaus auch von der pragmatischen Seite: „Die Kinder stehen um sieben Uhr auf. Was macht man da den ganzen Vormittag?“
Während der Predigt nimmt Seidenschnur einen grünen Faden zur Hand, zitiert den Propheten Jesaja und spricht von der „Vergötzung des eigenen Ich“: „dem Grundübel der heutigen Zeit“. Hinterher klopfen ihm einige anerkennend auf die Schulter.
Vor dem Portal der Herz-Jesu-Kirche, dem katholischen Pendant in der Fehrbelliner Straße, lehnen Fahrräder zuhauf. Drinnen ist sonntags kein Platz frei. In der vorletzten Reihe sitzt Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD), der sich an ganz andere Zeiten erinnert – an den „Kampfkatholizismus“ in der DDR, als die Kirche ein Refugium war für Andersdenkende und Andersgläubige. Die bunte, lebendige Vielfalt, die jetzt zu Tage tritt, behagt ihm jedoch wesentlich mehr. „Die Religion ist nicht erledigt.“
Lieber zum Brunch
Das katholische Kirchenvolk ist in der Herz-Jesu-Gemeinde Gemeinde um das Dreifache expandiert, das Durchschnittsalter beträgt 30 Jahre, sagt Pfarrer Emanuel Pannier. Die charismatische ökumenische Bewegung „Chemin neuf“ hat den Franzosen nach Berlin geführt – und gleich auch eine Reihe von Landsleuten angezogen.
Vor dem Stand mit den Ökoprodukten tummeln sich Omas und Opas mit Kinderwagen. Jörg, ein Arzt, unterhält sich mit einem befreundeten Architekten über „unser gesetteltes Leben“. „Es gibt ein Bedürfnis nach Spiritualität.“ Eine Aktivistin wirbt für einen Bibel-Arbeitskreis, eine andere für eine Gebetsnacht. Der Widerhall indes ist mäßig. Lieber verabreden sich die jungen Kirchgänger zum Brunch. Gerade ist die Mittagsstunde angebrochen – die beste Zeit für ein ausgedehntes Frühstück in Berlin.
Von Thomas Vieregge
1 Kommentar:
Diese Leute die hier her ziehen, die bringen ihr Dorf mit und versuchen es zu etablieren.
Sollen sie in den Wedding ziehen und dort ihre Kirchen wieder aufbauen.
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